Joachim Dierks, NOZ
Osnabrück. Mit 104 Jahren war Laras Uroma die älteste befragte Zeitzeugin. Ihre Erinnerungen an das Kriegsende vor 70 Jahren konnte sie zwar nicht persönlich vortragen, weil ihr der Weg in die Aula des Ratsgymnasiums zu beschwerlich war. Aber indirekt, über die Niederschrift ihrer Urenkelin Lara, nahm sie an der „Tafel der Generationen“ im Ratsgymnasium teil.
Lara und 60 Mitschüler haben im Rahmen eines Geschichte-Projekts der Klassen 5 bis 11 ältere Familienmitglieder oder Nachbarn befragt, die 1945 etwa so alt waren wie sie heute. Was sie dabei erfahren haben, brachten sie zu Papier, folierten es und hängten es an einer Wäscheleine auf, die durch die Aula gespannt war. Friedemann Neuhaus, Fachobmann Geschichte und Initiator des Projekts, begrüßte Schüler, Eltern, Großeltern, Lehrerkollegen und Ehemalige zur Präsentation der Berichte in der Aula. Er lud dazu ein, die Berichte von der Leine zu nehmen und zu lesen. Oder, genauso gut, „fragen Sie die Großmütter und Großväter, die jetzt hier sind – eine bessere Gelegenheit kommt nicht wieder“, sagte er.
Berichte, die zu Tränen rührten
Er habe alle Berichte gelesen, manche hätten ihn zu Tränen gerührt, bekannte Neuhaus. Daneben habe er Neues gelernt, das ihm in seiner Ausbildung zum Geschichtslehrer nicht begegnet sei. Er wisse nun, was „Fusselbrumm“ ist, nämlich eine Wassersuppe mit einer halben Kartoffel pro Mitesser. Als wesentlich gehaltvoller empfahl er die Tomaten-Zucchini-Suppe, die Lehrerkollegin Maria Brickwedde gekocht hatte: „Bei einer Tafel der Generationen darf man zu Recht erwarten, dass auch etwas aufgetischt wird.“ Waffeln und Kaffee und Kaltgetränke gab es obendrein. Und die Musik spielte dazu: Die Schülerkapelle unter Markus Preckwinkel intonierte Evergreens, die allen Altersgruppen zusagten.
Große Bandbreite von Erinnerungen
Die Erlebnisberichte spiegeln eine große Bandbreite von Erinnerungen wieder. Düstere und schreckliche Szenen stehen neben solchen, die einen schmunzeln lassen. Da gab es die Großmutter in Ostpreußen, die beim Aufbruch den Treck noch einmal anhalten ließ, weil sie das Bügeleisen vergessen hatte. Egal, was die Zukunft bringen würde, mit ungebügelten Hemden dürfe man ihr nicht entgegentreten, meinte sie. In mehreren Schilderungen spielt Schokolade eine große Rolle. Schokolade, die die deutschen Kinder 1945 kaum noch kannten, wurde ihnen beim Einmarsch von den Besatzern geschenkt. Die gefürchteten Feinde bekamen mit einem Mal ein freundliches Gesicht. Angst oder zumindest Unsicherheit blieb allerdings, wenn das Besatzer-Gesicht schwarz war, denn der Anblick von Negern war in Nazi-Deutschland absolut ungewohnt.
Zu Fuß geflüchtet
Richard nahm ganz mutig seine Großeltern an die Hand und zog sie vor das Mikrofon, wo die drei sich den Fragen des Geschichtslehrers stellten. Richard hatte tief beeindruckt, dass die Großmutter einfach so, von einem Tag auf den anderen, die Heimat verlassen musste und zu Fuß mit der Mutter und den Geschwistern wegmarschierte, ohne zu wissen, wo man landen würde. Die Großmutter, die damals zehn Jahre alt war, so wie ihr Enkel jetzt, ist heute erstaunt darüber, wie sorglos sie damals war: „Ich hatte ein Urvertrauen in meine Mutter und überhaupt keine Angst. Der 8. Mai war ein warmer Tag. Wir übernachteten einfach so auf einer Wiese. Meine Mutter hatte einen Mantel mit einem dicken Innenfutter. Da kuschelten wir uns hinein.“
Frieden ist nichts Selbstverstädnliches
Der Großvater berichtete, dass er als Kind sich gar nichts unter Frieden vorstellen konnte. Krieg war das Normale. „Wir haben trotzdem gespielt. Wenn ein Angriff kam, dann haben wir eben unterbrochen und hinterher weitergespielt.“ Er finde es ganz wichtig, dass die heutigen Kinder und Jugendlichen durch diesen Rückblick zu schätzen lernten, was für ein sagenhaftes Glück die 70 Jahre Frieden bedeuteten: „Das wichtigste, was wir weitergeben können, ist die Erkenntnis, dass Frieden nichts Selbstverständliches ist, dass man alles dafür tun muss, ihn zu bewahren.“