Frei­heit ge­win­nen

Os­na­brü­cker Ober­stu­fen­ta­ge wid­men sich dem The­ma „Le­ben zwi­schen Selbst­be­stim­mung und Ma­ni­pu­la­ti­on“

Gern ge­ben wir uns der Il­lu­si­on hin, dass wir frei sind in un­se­ren Ent­schei­dun­gen, weil wir mei­nen, dass wir selbst es sind, die be­stim­men, wann wir was kau­fen und war­um. Doch dass dies kei­nes­wegs der Fall ist, muss­ten 29 Schü­le­rin­nen und Schü­ler des Rats- und des Ernst-Mo­ritz-Arndt-Gym­na­si­ums und ih­re Lehr­kräf­te in Evan­ge­li­scher Re­li­gi­on bei den dies­jäh­ri­gen Ober­stu­fen­ta­gen vom 22.-24. Ja­nu­ar 2015 er­fah­ren. Das fängt schon im Su­per­markt an, z.B. im RE­WE-Markt in der Hein­rich­stra­ße, wo die ers­te Sta­ti­on der Ta­gung am Don­ners­tag­nach­mit­tag war. Be­zirks­ma­na­ger Ste­phan Thien, Markt­lei­ter Herr Huck­rie­de und die Ver­kaufs­för­de­rin Ro­se­ma­rie Pin­na in­for­mier­ten über die Stra­te­gien, wie und wo wel­che Pro­duk­te plat­ziert wer­den, um uns Kun­den zum Kauf zu ani­mie­ren. „Wir wol­len Geld ver­die­nen“, er­klär­te Thien frei­mü­tig. So er­fuhr die Grup­pe ei­ni­ges über Lauf­we­ge, Ei­gen­mar­ken, Gon­del­köp­fe und die ver­schie­de­nen Zo­nen (Reck­zo­ne, Blick­zo­ne, Greif­zo­ne und Bück­zo­ne), die je­weils für un­ter­schied­li­che Preis­seg­men­te glei­cher oder ähn­li­cher Pro­duk­te in den Re­ga­len ste­hen. Dass es zum Ab­schied noch für je­den ei­ne Tü­te mit ein we­nig Obst, Salz­ge­bäck und ei­nem Müs­li­rie­gel gab, wur­de gern an­ge­nom­men, spä­ter aber auch als Ver­such der – nun ja – po­si­ti­ven Be­ein­flus­sung ge­wer­tet.

Wo­her die Un­ter­neh­men das wis­sen, was wir Kun­den wol­len, wie lan­ge wir uns durch­schnitt­lich in ei­nem Su­per­markt auf­hal­ten, wie viel Geld wir für wel­che Pro­duk­te aus­zu­ge­ben be­reit sind, das er­fuh­ren wir am Frei­tag­vor­mit­tag beim Markt­for­schungs­in­sti­tut „Pro­dukt und Markt“ in Wal­len­horst. So­wohl in qua­li­ta­ti­ven als auch quan­ti­ta­ti­ven Un­ter­su­chun­gen, in Stu­dio­ver­su­chen und bei teil­neh­men­der Be­ob­ach­tung ver­su­chen die Markt­for­scher her­aus­zu­fin­den, was Kun­den im All­ge­mei­nen, aber auch be­son­de­re Kun­den­grup­pen im Be­son­de­ren für Be­dürf­nis­se ha­ben, wel­che Be­dürf­nis­se noch ge­weckt wer­den kön­nen, wel­che Pro­duk­te am bes­ten an­kom­men und wie neue Pro­duk­te am bes­ten auf den Markt ge­bracht wer­den kön­nen. Da­bei spielt es für die Markt­for­scher kei­ne Rol­le, ob es sich bei dem Pro­dukt um ein Scho­ko­sah­ne­des­sert oder um ein Ra­sen­dün­ger­ge­misch han­delt. Es geht im­mer nur dar­um, wie der Kon­sum und da­mit der Um­satz ge­stei­gert wer­den kön­nen.

Sind wir da über­haupt noch frei zu nen­nen? Und was ist über­haupt von ei­ner Wirt­schaft zu hal­ten, die im­mer nur auf Kon­sum­stei­ge­rung und Wirt­schafts­wachs­tum setzt? Im Klos­ter Frens­we­gen zeig­te Prof. Ni­ko Paech von der Uni­ver­si­tät Ol­den­burg in ei­nem span­nen­den und zu­gleich et­was des­il­lu­sio­nie­ren­den Vor­trag die Gren­zen des im­mer wei­ter ge­stei­ger­ten Kon­sums auf und pro­pa­gier­te statt­des­sen ei­ne Post­wachs­tums­öko­no­mie, al­so ei­ne Öko­no­mie, die auf Re­du­zie­rung des Wachs­tums setzt. Selbst ein „grü­nes Wachs­tum“, al­so ein Wirt­schafts­wachs­tum, das auf Nach­hal­tig­keit, auf er­neu­er­ba­re En­er­gien, auf Re­duk­ti­on des CO2-Aus­sto­ßes setzt, hält Peach für un­rea­lis­tisch, da kei­ne der bis­her er­fun­de­nen tech­ni­schen In­no­va­tio­nen je­mals zu ei­ner tat­säch­li­chen Sen­kung des En­er­gie­ver­brauchs ge­führt ha­be. Es ge­be auch psy­chi­sche Wachs­tums­gren­zen, wie an der zu­neh­men­den An­zahl an Burn­out- und De­pres­si­ons­er­kran­kun­gen ab­zu­le­sen sei. Un­be­herrsch­ba­re Fi­nanz­kri­sen und ei­ne nicht mehr ab­zu­wen­den­de Ver­knap­pung der Res­sour­cen der Er­de setz­ten dem Wirt­schafts­wachs­tum oh­ne­hin ir­gend­wann un­wei­ger­lich ein En­de. Die Fra­ge lau­te da­her: „Was darf sich ein In­di­vi­du­um an ma­te­ri­el­len Frei­hei­ten neh­men, oh­ne so­zi­al und öko­lo­gisch über sei­ne Ver­hält­nis­se zu le­ben?“

Paechs Ant­wort auf die­se Fra­ge lau­tet: Be­frei­ung vom Über­fluss; Ge­nüg­sam­keit nicht als ethi­sches Pos­tu­lat, son­dern als Chan­ce, Frei­heit für sich selbst zu ge­win­nen. Je­des Kon­sum­ob­jekt ver­lan­ge vor sei­ner An­schaf­fung und dann durch sei­ne Ver­wen­dung so viel Zeit, dass ein Ver­zicht auf den Kauf des Ob­jekts ei­nen rea­len Ge­winn an Zeit be­deu­te. „Ich ha­be kein Smart­phone, weil ich ein Ge­nuss­mensch bin und mei­ne Zeit nicht mit der Su­che nach dem bes­ten Ar­ti­kel, mit der Ge­brauchs­an­lei­tung und mit dem Ge­brauch des Smart­phones ver­schwen­den, son­dern lie­ber fürs Mu­si­zie­ren und Le­sen ein­set­zen möch­te.“ Ge­nüg­sam­keit sei nicht ei­ne Fra­ge der Ethik, son­dern des Selbst­schut­zes.

Aber kann ich ei­gent­lich selbst ei­ne sol­che Ent­schei­dung tref­fen? Oder sind wir doch viel zu stark von äu­ße­ren Ein­flüs­sen, wie z.B. un­se­rem so­zia­len Um­feld be­stimmt? Und wer ist es ei­gent­lich, der da ent­schei­det? Bin ich das oder ist das mein Ge­hirn, das auf be­stimm­te Rei­ze in be­stimm­ter Wei­se re­agiert und mich steu­ert? Prof. Saskia Na­gel von der Uni­ver­si­tät Twen­te gab da­zu ei­nen in­for­ma­ti­ven Über­blick in die Hirn­for­schung. Sie er­klär­te an­schau­lich die ver­schie­de­nen Me­tho­den der Neu­ro­lo­gie, an­ge­fan­gen vom EEG über CMT bis zu fMRT, al­les Tech­ni­ken, die auch in der Me­di­zin ein­ge­setzt wer­den. Be­son­ders ein Ex­pe­ri­ment, von dem Na­gel be­rich­te­te, fas­zi­nier­te die Schü­le­rin­nen und Schü­ler: das Ex­pe­ri­ment von Ben­ja­min Li­bet, das ent­ge­gen sei­nen ei­ge­nen Er­war­tun­gen zu be­le­gen schien, dass un­ser Ge­hirn die Ent­schei­dung zu ei­ner Hand­lung be­reits trifft, be­vor wir uns selbst da­zu ent­schie­den ha­ben. Aber Li­bet selbst be­haup­te­te, wir hät­ten trotz al­le­dem im­mer noch die Chan­ce zu ei­nem Ve­to, al­so die Ent­schei­dung zu re­vi­die­ren, die un­ser Ge­hirn ge­trof­fen ha­be. Na­gel nann­te das die Plas­ti­zi­tät un­se­res Ge­hirns. „Das Ge­hirn steu­ert uns nicht nur, son­dern wir for­men auch das Ge­hirn.“

Ei­ne ganz an­de­re Form der Frei­heit zeig­te Prof. Dr. Ar­nulf von Sche­li­ha von der Uni­ver­si­tät Müns­ter am Frei­tag­mor­gen, näm­lich die „Frei­heit des Chris­ten­men­schen“, wie der Re­for­ma­tor Mar­tin Lu­ther sie ver­stand und wie sie spä­ter der Phi­lo­soph Im­ma­nu­el Kant auf die Ge­sell­schaft be­zo­gen er­wei­ter­te. Lu­thers Frei­heits­ver­ständ­nis drü­cke sich in den „pa­ra­doxa­len Ge­gen­the­sen“ sei­ner pro­gram­ma­ti­schen Schrift von 1520 aus, wo­nach der Chris­ten­mensch zu­gleich „ein frei­er Herr und nie­man­dem un­ter­tan“ und „ein dienst­ba­rer Knecht und je­der­mann un­ter­tan“ sei. Es sei die the­o­no­me, d.h. von Gott ge­schenk­te Frei­heit, die den gläu­bi­gen Chris­ten aus­ma­che und ihn in zu­gleich zu ei­ner mo­ra­lisch qua­li­fi­zier­ten, tä­ti­gen, krea­ti­ven und selbst­kri­ti­schen Frei­heit be­fä­hi­ge. Der Christ sei frei von Ge­bo­ten und tue gu­te Wer­ke aus frei­en Stü­cken. Zu­gleich sei er sich selbst­kri­tisch sei­ner Gren­zen be­wusst und er­ken­ne sei­ne Sünd­haf­tig­keit. In Er­wei­te­rung die­ses Frei­heits­ver­ständ­nis­ses, so Sche­li­ha, ha­be Im­ma­nu­el Kant die Frei­heit un­ter der For­de­rung „Ha­be den Mut dich des ei­ge­nen Ver­stan­des zu be­die­nen“ in der Dia­lek­tik von per­sön­li­cher Frei­heit (z.B. im Ge­lehr­ten­kreis) und ge­sell­schaft­li­cher Un­frei­heit (z.B. als Trä­ger ei­nes Am­tes) ver­stan­den.

Die an­schlie­ßen­de Dis­kus­si­on so­wohl über Lu­ther als auch auch über die Gren­zen der Re­li­gi­ons-, Mei­nungs- und Pres­se­frei­heit mach­ten ein­mal mehr deut­lich, wie sehr die Ju­gend­li­chen das The­ma Frei­heit auch in ih­rem Rin­gen um Au­to­no­mie ei­ner­seits und das rech­te Tun an­de­rer­seits be­weg­te. Das wur­de auch in der an­schlie­ßen­den Grup­pen­ar­beit deut­lich, in der die Er­geb­nis­se der ge­sam­ten Ta­gung auf krea­ti­ve und an­spruchs­vol­le Wei­se noch ein­mal zu­sam­men­ge­fasst und prä­sen­tiert wur­den. Das Team des Ar­beits­krei­ses Kir­che und Schu­le (AK­KUS) war sich mit (fast) al­len Teil­neh­mern ei­nig, dass die­se Ta­gung die Er­war­tun­gen weit über­trof­fen hat. Ein Dank ge­bührt Pas­tor Hart­mut Marks von der Born, der die­se Ver­an­stal­tung von Sei­ten des Kir­chen­krei­ses Os­na­brück or­ga­ni­siert hat, dem Ehe­ma­li­gen­ver­ein des Rats­gym­na­si­ums und dem För­der­ver­ein und des EMA-Gym­na­si­ums so­wie der Evan­ge­li­schen Ju­gend­stif­tung des Kir­chen­krei­ses und der Evan­ge­lisch-Lu­the­ri­schen Lan­des­kir­che, die die­se Ver­an­stal­tung fi­nan­zi­ell un­ter­stützt ha­ben. Vor al­lem aber ist den freund­li­chen Gast­ge­bern bei „RE­WE Ci­ty“, bei „Pro­dukt und Markt“ und im Klos­ter Frens­we­gen so­wie den en­ga­gier­ten Re­fe­ren­ten Saskia Na­gel, Ni­ko Paech und Ar­nulf von Sche­li­ha zu dan­ken.

27.01.2015 NEH

150 150 Ratsgymnasium Osnabrück
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