Die Auschwitz-Überlebende Erna de Vries berichtet am Ratsgymnasium
„Als ich mich von meiner Mutter verabschiedete, sagte sie zu mir: ‚Du wirst leben und allen erzählen, was sie uns angetan haben‘, und das tue ich jetzt hier bei euch“, so beginnt die inzwischen 92-jährige Erna de Vries ihren Bericht. Dann ist es für eine gute Stunde mucksmäuschenstill in der Aula des Ratsgymnasiums, wo sich der Jahrgang 9 und einige Geschichtskurse des 12. Jahrgangs versammelt haben. Denn diese Geschichte hat es in sich, und auch wer sie schon mehrmals gehört hat, kann sie nur schwer ertragen.
Erna de Vries wurde als Erna Korn 1923 in Kaiserslautern als Tochter eines evangelischen Christen und einer Jüdin geboren und im jüdischen Glauben erzogen. Nach dem Tod ihres Vaters lebte sie allein mit ihrer Mutter und später mit einem Cousin in der elterlichen Wohnung. Nach der Pogromnacht im November 1938 wurde diese Wohnung von randalierenden SA-Trupps vollkommen zerstört und unter Wasser gesetzt. Eine Nachbarin, eine glühende Nationalsozialistin, so erinnert sich Erna de Vries, rief, als sie die damals 15-Jährige sah: „Werft sie hinein in den Krempel!“
Nach einigen wechselvollen Jahren in Köln bei Verwandten und wieder in Kaiserslautern wurden Erna und ihre Mutter deportiert. Als sogenannte Halbjüdin hätte Erna gar nicht mitfahren müssen bzw. sollen, doch sie wollte ihre Mutter nicht allein lassen.
In Auschwitz erlebt sie die Hölle auf Erden, eine vollständige Entmenschlichung und Demütigung. „Auschwitz“, so erzählt Erna de Vries, „war Hunger, Schläge, Tod.“ Von Krankheit gezeichnet und geschwächt wurde sie eines Tages aussortiert und in den Todestrakt gebracht. Sie schien sich schon mit ihrem Schicksal abgefunden zu haben. Sie betete nur: „Ich möchte noch einmal die Sonne sehen.“ Da wurde ihre Nummer aufgerufen, die man ihr in den Arm eintätowiert hatte und die man noch heute sehen kann. Das war ihre Rettung. Aufgrund eines Himmler-Erlasses sollten alle Halbjuden als Arbeiter in der Rüstungsindustrie eingesetzt werden. Erna de Vries kam auf diese Weise in das Frauen-Konzentrationslager Ravensbrück, wo sie in einem Siemenswerk arbeiten musste. Vor ihrer Abreise aber hatte sie noch ihre Mutter treffen können, die sie schon tot geglaubt hatte. Da hatte ihre Mutter ihr den eingangs erwähnten Auftrag mitgegeben: „Du wirst leben und alles erzählen, was sie uns angetan haben.“
In Ravensbrück war es auch schlimm, aber es war kein Vernichtungslager wie Auschwitz. Mit Hilfe von anderen Häftlingen konnte sie überleben. Kurz vor Kriegsende schickte die SS die Häftlinge noch auf einen Todesmarsch Richtung Westen. Nach ein paar Tagen unmenschlicher Anstrengung hörten sie und ihre Freundin, wie die vorderen Reihen jubelten und sich umarmten. „Es waren die Amerikaner“, sagt Erna de Vries, „und da waren wir frei.“
Da brandet Applaus in der Aula auf, und man spürt, wie sich die Anspannung Luft verschafft. Obwohl ihre Stimme bereits etwas angegriffen erscheint, beantwortet Frau de Vries bereitwillig jede Frage. Wie sie wieder neu in Deutschland angefangen habe, dass weder sie noch ihr Mann, der verschiedene Lager überlebt habe, jemals Groll oder Hass empfunden hätten, dass sie die Auschwitz-Prozesse der 60-er Jahre zwar mitverfolgt, aber selbst nicht als Zeugin ausgesagt habe und dass die junge Generation zwar keine Schuld, aber doch Verantwortung dafür trage, dass die Erinnerung an das Grauen von Auschwitz nicht verloren gehe. Sie selbst werde täglich daran erinnert und sei es durch ein Stück Brot, das jemand weggeworfen habe. Das könne sie bis heute nicht ertragen.
Mit einem warmen Applaus verabschieden die Schülerinnen und Schüler Erna de Vries, deren Herzenswärme und Freundlichkeit keinen unberührt lässt. Vielen Dank und Auf Wiedersehen, bis zum nächsten Mal.
25.01.2016 Text: NEH, Foto: NH