„Ich dach­te, ich wüss­te schon al­les über den Krieg“

– Schü­ler schrei­ben 70 Jah­re nach Kriegs­en­de die Ge­schich­ten ih­rer Groß­el­tern auf – (Ter­min: 8. Mai)

Von Mar­ti­na Schwa­ger (Evan­ge­li­scher Pres­se­dienst)

Osnabrück/Berlin (epd). Bis­her war der Zwei­te Welt­krieg für die 14-jäh­ri­ge Hen­ri­ke Ku­per weit weg. Doch ein Ge­spräch mit ih­ren Groß­el­tern hat der Schü­le­rin des Os­na­brü­cker Rats­gym­na­si­ums die Er­eig­nis­se na­he ge­bracht – so na­he, „dass ich manch­mal dach­te, ich könn­te al­les nach­füh­len.“ Über die Schil­de­run­gen hat Hen­ri­ke ei­ne klei­ne Ge­schich­te ver­fasst, in der die Er­in­ne­run­gen le­ben­dig wer­den: „Lau­te Ru­fe, Ge­rum­pel, Men­schen, die ih­re Hab­se­lig­kei­ten auf Tor­flo­ren sta­peln. Mit­ten­drin ein sie­ben­jäh­ri­ger Jun­ge, mein Groß­va­ter.“

So wie Hen­ri­ke ha­ben 60 ih­rer Mit­schü­ler Ge­sprä­che mit ih­ren Groß­el­tern do­ku­men­tiert. Am Sonn­abend, 70 Jah­re und ei­nen Tag nach dem Kriegs­en­de, wer­den Zeit­zeu­gen und En­kel in der Schu­le an ei­ner Ta­fel der Ge­ne­ra­tio­nen Platz neh­men. Sie sol­len mit­ein­an­der ins Ge­spräch kom­men über ih­re Er­fah­run­gen und die be­son­de­ren Ge­schich­ten, die für al­le zum Le­sen aus­lie­gen.

Ge­schichts­leh­rer Frie­de­mann Neu­haus hat das Pro­jekt am Rats­gym­na­si­um in­iti­iert. Der 70. Jah­res­tag sei für vie­le Schu­len, Kir­chen­ge­mein­den und Ver­ei­ne ein An­lass, Zeit­zeu­gen stär­ker in die Bil­dungs­ar­beit ein­zu­be­zie­hen, sagt Ti­mon Pe­r­abo, Ko­or­di­na­tor für Zeit­zeu­gen­pro­jek­te des An­ne-Frank-Zen­trums in Ber­lin.

Die­se Ent­wick­lung ha­be sich schon in den ver­gan­ge­nen Jah­ren ab­ge­zeich­net, nach­dem auch in den Me­di­en im­mer häu­fi­ger Zeit­zeu­gen zu Wort ge­kom­men sei­en. In der Ge­sell­schaft ha­be sich die Auf­fas­sung durch­ge­setzt: „Wenn nicht jetzt, dann wird es bald zu spät sein.“ Das An­ne-Frank-Zen­trum hat das Pro­gramm „70 Jah­re da­nach – Ge­ne­ra­tio­nen im Dia­log“ ent­wi­ckelt. Sie­ben Städ­te aus sechs Bun­des­län­dern neh­men bis­lang dar­an teil.

Die äl­te­re Ge­ne­ra­ti­on sei in der Re­gel sehr of­fen und froh, dass sie sich mit­tei­len kön­ne, be­tont Pe­r­abo. Das hat auch Hen­ri­ke bei ih­ren Groß­el­tern so er­lebt. Für Ge­schich­te ha­be sie sich schon im­mer in­ter­es­siert: „Ich dach­te, ich wüss­te schon al­les über den Krieg – aus Bü­chern.“ Jetzt ha­be sie ei­nen viel per­sön­li­che­ren Ein­blick be­kom­men. „Men­schen, die ich ken­ne, wa­ren da­bei. Und sie wa­ren noch jün­ger als ich heu­te.“ Und so­fort fällt ihr wie­der ein Er­leb­nis von Opa Gerd Ku­per ein: „Mein Groß­va­ter steht et­was ab­seits als das Un­glück mit der Hand­gra­na­te pas­siert. Ein Jun­ge zieht den He­bel. Ein Mäd­chen und ein Jun­ge ster­ben.“

Die Be­rich­te der Schü­ler spie­geln ei­ne gro­ße Band­brei­te von Kriegs­er­fah­run­gen wi­der. Man­cher Opa er­zählt vom fast un­be­schwer­ten Spiel zwi­schen zwei Bom­ben­alar­men und Scho­ko­la­de ver­tei­len­den Eng­län­dern. Hen­ri­kes Oma Do­ro­thea Ku­per er­in­nert sich an „durch­aus span­nen­de Näch­te“ im Luft­schutz­kel­ler: „Man­ches war für uns da­mals ein­fach Aben­teu­er.“ Doch in al­len Tex­ten ist auch von Leid die Re­de: von Ge­fal­le­nen, von Vä­tern in Ge­fan­gen­schaft und zer­stör­ten Häu­sern, von Hun­ger, dem Ver­lust der Hei­mat und so­gar Ver­ge­wal­ti­gung.

Die Tat­sa­che, dass die meis­ten teil­neh­men­den Schü­ler heu­te nur we­nig äl­ter sind, als es ih­re Groß­el­tern da­mals wa­ren, ha­be für sie of­fen­bar ei­nen be­son­de­ren Reiz aus­ge­macht, sagt der Päd­ago­ge Neu­haus. Und Hen­ri­ke er­gänzt: „Wenn ich das mit mei­nem heu­ti­gen Le­ben ver­glei­che, kann ich mich glück­lich schät­zen, dass ich es so gut ha­be.“

Pe­r­abo warnt al­ler­dings da­vor, Zeit­zeu­gen-In­ter­views völ­lig un­kri­tisch zu be­trach­ten. Die Men­schen lie­fer­ten kei­ne his­to­ri­schen Fak­ten, son­dern Er­in­ne­run­gen, die durch ihr ge­sam­tes Le­ben und oft auch durch die Me­di­en ge­prägt sei­en: „Das ist ein Fa­mi­li­en­al­bum und kein Ge­schichts­buch.“ Die Ge­schich­te der von den Na­tio­nal­so­zia­lis­ten Ver­folg­ten kom­me da­bei oft gar nicht zur Spra­che.

Aus die­sem Grund will auch Neu­haus sei­ne Leh­rer­kol­le­gen ani­mie­ren, die Tex­te im Un­ter­richt zu be­han­deln. Am Sonn­abend wird er au­ßer­dem nicht ver­schwei­gen, was ihm auf­ge­fal­len ist. Schuld und Ver­bre­chen der Na­tio­nal­so­zia­lis­ten kom­men nur in ganz we­ni­gen Tex­ten vor: „Na­zis hat es of­fen­bar fast nir­gend­wo ge­ge­ben.“

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2560 1696 Ratsgymnasium Osnabrück
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