“ Der Christbaumständer “
Beim Aufräumen des Dachbodens – ein paar Wochen vor Weihnachten – entdeckte ein Familienvater in einer Ecke einen ganz verstaubten, uralten Weihnachtsbaumständer.
Es war ein besonderer Ständer mit einem Drehmechanismus und einer eingebauten Spielwalze.
Beim vorsichtigen Drehen konnte man das Lied „O du fröhliche“ erkennen.
Das musste der Christbaumständer sein, von dem Großmutter immer erzählte, wenn die Weihnachtszeit herankam.
Das Ding sah zwar fürchterlich aus, doch da kam ihm ein wunderbarer Gedanke. Wie würde sich Großmutter freuen, wenn sie am Heiligabend vor dem Baum säße und dieser sich auf einmal wie in uralter Zeit zu drehen begänne und dazu „O du fröhliche“ spielte. Nicht nur Großmutter, die ganze Familie würde staunen.
Es gelang ihm, mit dem antiken Stück ungesehen in seinen Bastelraum zu verschwinden.
Gut gereinigt, eine neue Feder, dann müsste der Mechanismus wieder funktionieren, überlegte er.
Abends zog er sich jetzt geheimnisvoll in seinen Hobbyraum zurück, verriegelte die Tür und werkelte. Auf neugierige Fragen antwortete er immer nur „Weihnachtsüberraschung“.
Kurz vor Weihnachten hatte er es geschafft. Wie neu sah der Ständer aus, nachdem er auch noch einen Anstrich erhalten hatte.
Jetzt aber gleich los und einen prächtigen Christbaum besorgen, dachte er. Mindestens zwei Meter sollte der messen.
Mit einem wirklich schön gewachsenen Exemplar verschwand Vater dann in seinem Hobbyraum, wo er auch gleich einen Probelauf startete. Es funktionierte alles bestens. Würde Großmutter Augen machen!
Endlich war Heiligabend.
„Den Baum schmücke ich alleine“, tönte Vater.
So aufgeregt war er lange nicht mehr. Echte Kerzen hatte er besorgt, alles sollte stimmen.
„Die werden Augen machen“, sagte er bei jeder Kugel, die er in den Baum hing.
Vater hatte wirklich an alles gedacht. Der Stern von Bethlehem saß oben auf der Spitze, bunte Kugeln, Naschwerk und Wunderkerzen waren untergebracht, Engelhaar und Lametta dekorativ aufgehängt. Die Feier konnte beginnen.
Vater schleppte für Großmutter den großen Ohrensessel herbei.
Feierlich wurde sie geholt und zu ihrem Ehrenplatz geleitet.
Die Stühle hatte er in einem Halbkreis um den Tannenbaum gruppiert.
Die Eltern setzten sich rechts und links von Großmutter, die Kinder nahmen außen Platz.
Jetzt kam Vaters großer Auftritt. Bedächtig zündete er Kerze für Kerze an, dann noch die Wunderkerzen.
„Und jetzt kommt die große Überraschung“, verkündete er, löste die Sperre am Ständer und nahm ganz schnell seinen Platz ein.
Langsam drehte sich der Weihnachtsbaum, hell spielte die Musikwalze „O du fröhliche“.
War das eine Freude! Die Kinder klatschten vergnügt in die Hände. Oma hatte Tränen der Rührung in den Augen.
Immer wieder sagte sie: „Wenn Großvater das noch erleben könnte, dass ich das noch erleben darf.“
Mutter war stumm vor Staunen.
Eine ganze Weile schaute die Familie beglückt und stumm auf den sich im Festgewand drehenden Weihnachtsbaum, als ein schnarrendes Geräusch sie jäh aus ihrer Versunkenheit riss. Ein Zittern durchlief den Baum, die bunten Kugeln klirrten wie Glöckchen.
Der Baum fing an, sich wie verrückt zu drehen.
Die Musikwalze hämmerte los. Es hörte sich an, als wollte „O du fröhliche“ sich selbst überholen.
Mutter rief mit überschnappender Stimme: „So tu doch etwas!“
Vater saß wie versteinert, was den Baum nicht davon abhielt, seine Geschwindigkeit zu steigern. Er drehte sich so rasant, dass die Flammen hinter ihren Kerzen herwehten.
Großmutter bekreuzigte sich und betete. Dann murmelte sie: „Wenn das Großvater noch erlebt hätte.“
Als Erstes löste sich der Stern von Bethlehem, sauste wie ein Komet durch das Zimmer, klatschte gegen den Türrahmen und fiel dann auf Felix, den Dackel, der dort ein Nickerchen hielt.
Der arme Hund flitzte wie von der Tarantel gestochen aus dem Zimmer in die Küche, wo man von ihm nur noch die Nase und ein Auge um die Ecke schielen sah.
Lametta und Engelhaar hatten sich erhoben und schwebten wie ein Kettenkarussell am Weihnachtsbaum.
Vater gab das Kommando „Alles in Deckung!“
Ein Rauschgoldengel trudelte losgelöst durchs Zimmer, nicht wissend, was er mit seiner plötzlichen Freiheit anfangen sollte.
Weihnachtskugeln, gefüllter Schokoladenschmuck und andere Anhängsel sausten wie Geschosse durch das Zimmer und platzten beim Aufschlagen auseinander.
Die Kinder hatten hinter Großmutters Sessel Schutz gefunden. Vater und Mutter lagen flach auf dem Bauch, den Kopf mit den Armen schützend.
Mutter jammerte in den Teppich hinein: „Alles umsonst, die viele Arbeit, alles umsonst!“
Vater war das alles sehr peinlich. Oma saß immer noch auf ihrem Logenplatz, wie erstarrt, von oben bis unten mit Engelhaar und Lametta geschmückt. Ihr kam Großvater in den Sinn, als dieser 14-18 in den Ardennen in feindlichem Artilleriefeuer gelegen hatte. Genau so musste es gewesen sein.
Als gefüllter Schokoladenbaumschmuck an ihrem Kopf explodierte, registrierte sie trocken „Kirschwasser“ und murmelte: „Wenn Großvater das noch erlebt hätte!“
Zu allem jaulte die Musikwalze im Schlupfakkord „O du fröhliche“, bis mit einem ächzenden Ton der Ständer seinen Geist aufgab.
Durch den plötzlichen Stopp neigte sich der Christbaum in Zeitlupe, fiel aufs kalte Buffet, die letzten Nadeln von sich gebend.
Totenstille! Großmutter, geschmückt wie nach einer New Yorker Konfettiparade, erhob sich schweigend.
Kopfschüttelnd begab sie sich, eine Lamettagirlande wie eine Schleppe tragend, auf ihr Zimmer.
In der Tür stehend sagte sie: „Wie gut, dass Großvater das nicht erlebt hat!“
Mutter, völlig aufgelöst zu Vater: „Wenn ich mir diese Bescherung ansehe, dann ist deine große Überraschung wirklich gelungen.“
Andreas meinte: „Du, Papi, das war echt stark!
Machen wir das jetzt Weihnachten immer so?“